Wie verbinden sich persönliche und berufliche Erfahrung im Angesicht einer Krebsdiagnose?
Jane Wardle wußte in der Theorie alles darüber, wie man mit Krebs umgeht - sie ist Psychologin, die darauf spezialisiert ist, Krebskranken zu helfen. Eines Tages erfuhr sie, dass sie selbst an einer Form von Leukämie erkrankt ist.
Sonntag, 17. März 2002
The Observer
Ich war 46, als ich zur Direktorin eines Institutes ernannt wurde, das sich mit psychologischer Forschung im Bereich der Krebsvorsorge befaßt. Drei Monate später wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Während der folgenden Jahre kämpfte ich darum, persönliche und berufliche Aspekte dieser Erkrankung in Einklang miteinander zu bringen. Als klinische Psychologin kannte ich die Theorie der emotionalen Anpassung an Traumata, aber würde ich mit meiner eigenen Krebserkrankung umgehen können? Ich war mir nicht sicher.
Die Diagnose folgte einer routinemäßige Blutuntersuchung. An jenem Tag rief jemand aus dem Krankenhaus nicht unter meiner Privatnummer, sondern unter der Nummer meines Büros an. Da kollidierten erstmalig berufliche und private Aspekte der Erkrankung. Der Anrufer aus der Klinik war irritiert dadurch, dass ich ein Patient mit Doktortitel bin. So kam es, dass mein Anrufbeantworter mir mitteilte, dass ich an Chronisch Lymphatischer Leukämie leide.
Nach dem ersten Schock nahm ich erst einmal an, dass ein Irrtum vorliegen würde. Im Grunde genommen stützte ich mich auf diese Annahme, um Zeit zu gewinnen. Ich erwartete stündlich einen Anruf, der mich darüber informieren würde, dass ich einen Namensvetter hätte, der das eigentliche Opfer sei. Zwei Tage später saß ich dennoch beim Hämatologen, der mir eröffnete, dass ich die “Beste aller Krebserkrankungen” hätte. Die Chancen ständen gut, dass ich die nächsten fünf, vielleicht auch zehn Jahre bei gutem Allgemeinbefinden überleben würde.
Psychologen haben beschrieben, wie bei Patienten die Zukunftsvorstellungen erschüttert werden, wenn sie erfahren, dass sie Krebs haben. Sie werden mit Gedanken an Verlust und Tod konfrontiert, Gedanken, die normalerweise außerhalb des Bewußtseins gehalten werden. Die Diagnose zerstört die Vorstellung eines vorhersagbaren und kontrollierbaren Daseins. Meine Welt wurde buchstäblich auf den Kopf gestellt. Genau das war es, was ich während der ersten Tage empfand. Nichts machte mehr einen Sinn. Die Menschen um mich herum erweckten in mir den Eindruck, in einer Pantomime zu leben. Der Blick auf Wandsworth Common - dahin bin ich mit meinem Mann nach dem Arztbesuch gefahren - ist in meinem Gedächtnis eingeprägt als ein Bild von stummen Figuren, die sich silhouettenhaft vor einem Hintergrund aus vergilbtem Gras unter einem wolkenlosen Himmel bewegen.
Während der nächsten Wochen versuchte ich mit allen Mitteln, die Tatsache zu verleugnen, dass bei mir eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden war. Da muß ein Irrtum vorliegen, sagte ich mir . Das Ganze erschien mir als ein Albtraum, aus dem ich jeden Moment erwachen würde. Ich flehte meinem Mann an, mir zu sagen, dass das alles nicht wahr wäre. Ich erklärte den Ärzten, dass ich genauere medizinische Details nicht wissen wolle. Ich ignorierte die Fachzeitschriften, die täglich auf meinem Schreibtisch landeten. Diese Phase der Verleugnung wurde dann durch eine Phase der Angst abgelöst.
Eine psychologische Theorie besagt, dass Menschen Tatsachen dann verleugnen, wenn sie eine Änderung ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer Zukunftsvorstellungen nicht verarbeiten können. Bilder der neuen Realität verdrängen dann aber schrittweise diese Verteidigungsstrategien. Meine Vorstellungen handelten von Krankenhäusern und langwierigen Untersuchungen, von untätigem Abwarten, von Chemotherapien, die irgendwann fehlschlagen würden und letztendlich vom Sterben. Ich fürchtete mich vor der Einsamkeit, fühlte mich aber auch allein gelassen von Mitmenschen, die nichts verstanden. Ich wurde wütend über der Vorstellung, dass ich nicht alt werden würde und wurde sogar auf neidisch auf alte Menschen. Ich bedauerte meinen Mann, der seinen Lebensabend alleine würde verbringen müssen und ich bedauerte meine Kinder, die Probleme mit Beziehungen, Arbeitsplätzen und ihren Familien ohne Mutter zu bewältigen haben würden.
Und ich entdeckte, dass Psychologen besser darin sind, emotionale Reaktionen zu beschreiben, als darin, Ratschläge zu geben, wie man damit umgehen kann. Wenn die Angst einmal aussetzte, sehnte ich mich nach Wärme und körperlichem Kontakt. Ich weinte vor meiner Familie und Freunden und flehte sie an, mich niemals alleine zu lassen. Sie hielten mich fest und versprachen mir alles, was ich wollte. Zu Zeiten, in denen meine Verleugnungsstrategien perfekt funktionierten, versuchte ich wieder wie seinerzeit in den 60er Jahren nach dem Motto “Sex and Drugs and Rock´n Roll” zu leben. Auch das wurde von meiner Familie und meinen engeren Freunden resigniert toleriert.
Die Entdeckung, die mich am meisten überraschte, war die, dass die grundverschiedenen Empfindungen von Intimität und Verlassenheit bei meinem Liebesleben aufeinanderprallten. Mein Arzt sagte mir, dass ich die erste seiner Patientinnen sei, die ihm nach der Krebsdiagnose darüber berichtete, neue sexuelle Leidenschaften zu empfinden. Ich zweifle allerdings daran, dass ich wirklich die erste war, die so empfunden hat. Als Psychologin weiß ich, dass viele Patienten nach so einer Diagnose depressiv werden, aber ich weiß auch, dass die meisten aus dieser Depression wieder herauskommen. War dieses Wissen für mich von irgendeinem Nutzen, jetzt, als ich mich auf der anderen Seite des Schreibtisches wiederfand?
Ich fand heraus, dass es mir wenigstens möglich wurde, beiseitezutreten von meinem Leid und mich auf Dinge zu konzentrieren, die versprachen, besser damit umgehen zu können. Zu Weinen schuf Erleichterung, aber nur, wenn ich mit einem anderen Menschen zusammen war. Alleine oder am Telefon zu weinen verursachte eine gegenteilige Wirkung. Glücklicherweise entwickelte ich mich zu einer “effizienten Heulsuse”. Alles was ich brauchte war jemand, der mich fünf oder zehn Minuten lang in seinen Armen hielt. Diskussionen über medizinische Aspekte der Leukämie führten dazu, dass ich mich schlechter fühlte. Nur in Momenten, in denen es mir besser ging, konnte ich mit jemand über meine Krankheit reden. Vielleicht strengten mich meine Bemühungen um Selbstkontrolle zu sehr an. Selbst bei Dingen, von denen ich nur gehört hatte und die nicht auf eigener Erfahrung beruhten, empfand ich das so.
Ich wußte, obwohl ich es kaum glauben konnte, dass es Menschen gibt, die wegen und nicht trotz ihrer Krebserkrankung etwas Positives am Leben finden können. Sogar während der ersten schrecklichen Wochen gab es für mich Kompensationen, die ich mit der Zeit immer mehr zu schätzen gelernt habe. Meine Liebe zu meiner Familie und zu Freunden wurde intensiver, mein Sexualleben wurde zärtlicher und leidenschaftlicher, die Bücher, die ich las, gaben mir mehr und das Joggen im Park brachte mir einen neuen Bezug zu meinem Körper. Ich konnte leichter von Dingen lassen, die ich eigentlich nie genossen hatte. Ich mußte nicht mehr versuchen, die beste Schifahrerin zu sein und es störte mich auch nicht mehr, dass ich noch nie eine talentierte Köchin war.
Ich hielt meine Diagnose ein Jahr lang vor meinen Kindern geheim. Mein Sohn war damals 12 und meine Tochter 18 Jahre alt. Sie war damals gerade vor Beginn ihres Studiums und kurz davor, eine größere Reise anzutreten. Ich wollte meine Kinder vor einem Schock bewahren, aber als ich ihnen schließlich von meiner Krankheit erzählte, war für sie der größte Schock der, dass sich ein für unsere Familie so wichtiges Ereignis unbemerkt hinter ihrem Rücken abspielen konnte. Glücklicherweise haben mir meine Kinder vergeben und auch ich habe mir vergeben, aber mein Fehler war, dass ich mich damals nicht von kompetenter Seite habe beraten lassen. In ihrem Wunsch, mir zu helfen, haben mich meine Freunde darin unterstützt, die Kinder mit diesen Nachrichten zu verschonen. Aus meiner Erfahrung heraus weiß ich jetzt, dass man in so einem Fall den Rat von Leuten suchen und befolgen sollte, die sich beruflich mit solchen Problemen befassen.
Schließlich tauchte die Frage auf, ob ich meinem weiteren Bekanntenkreis informieren sollte. Wie sollte ich über Urlaube und Zukunftspläne in ungezwungener Art und Weise mit ihnen reden, wenn ich ihnen gleichzeitig verschwieg, in welche Abgründe ich geblickt hatte? Aber wenn ich ihnen darüber berichten würde, würde unser ganzes Treffen von diesem Thema überschattet sein. Den meisten Menschen fällt es nicht leicht, mit jemand ein Schwätzchen zu halten, von dem sie gerade erfahren haben, dass er Krebs hat.
Noch schwieriger war es für mich, mit den Reaktionen der Leute umzugehen. Einige schienen aus der Fassung gebracht, und einige, die keine Träne über meinen Tod vergossen hätten, weinten, als ich ihnen erzählte, dass ich Krebs habe. Natürlich weinten sie zum Teil darüber, weil sie dadurch auf ihre eigene Sterblichkeit aufmerksam gemacht wurden, aber es wäre anmaßend von mir zu behaupten, dass ich gänzlich verstehen würde, was sie empfanden.
Anfangs versuchte ich solche Situationen in den Griff zu bekommen, indem ich meinem jeweiligen Gesprächspartner versicherte, dass es mir hervorragend ginge und das ich voll darauf vertraue, dass der medizinische Fortschritt sehr schnell eine Lösung für mein Problem hervorbringen werde. Unglücklicherweise vertraute ich nicht wirklich darauf und ich entdeckte, dass ich verstärkt unter Albträumen zu leiden begann, wenn ich größere Hoffnungen vorspielte als ich eigentlich hatte - eine interessante Erfahrung!
Andere Leute reagierten darauf, indem sie die Ernsthaftigkeit meiner Erkrankung herunterspielten, oft mit der alten Geschichte, dass wir doch alle morgen von einem Bus überfahren werden könnten. Ich erklärte Ihnen dann, dass ich in meiner Situation den Bus jetzt schon sehen, ihm aber nicht ausweichen könne. Allerdings fühlte ich mich dann schuldig dafür, dass ich sie verunsichert hatte.
Alles in allem war es ein schwieriger als ich gedacht hatte mit den Reaktionen umzugehen, wenn ich mich “geoutet” hatte. Ich sah, dass meine Mitmenschen eine Art Warnung benötigten, bevor ich mit dem Thema anfing. Am Besten fuhr ich damit, Ihnen das Thema weder zu emotional noch zu gelassen zu präsentieren. Wenn ich zu emotional wurde, wurde es ihnen peinlich; wenn ich zu cool war, wußten sie nicht, wie sie reagieren sollten. Sie wollten mir ihre Anteilnahme anbieten, die ich aber offensichtlich gar nicht brauchte.
Für mich, wie sicher für alle anderen Krebskranken auch, war es eine Offenbarung, diese Anteilnahme von Freunden zu erfahren. Das Gefühl, geliebt zu werden, war wie nach einer Kälteperiode wieder Sonne auf der Haut zu spüren oder wie in der Dunkelheit einen Lichtstrahl zu entdecken. Die Möglichkeit, jemanden, so oft ich wollte, zum Reden zu haben, half mir zu akzeptieren, was mit mir geschehen war. Auch lernte ich dadurch damit umzugehen, was es für mich wirklich bedeutete. Ich empfinde noch immer eine überwältigende Dankbarkeit meiner Familie, meinen Freunden und vor allem meinem Mann gegenüber für Ihre Großzügigkeit und Duldsamkeit während der ersten Zeit, in der ich mich mit der Diagnose abfinden mußte.
Aber ich habe auch herausgefunden, dass es ein aktiver Prozeß ist, nach Unterstützung zu suchen. Meine wichtigste Entdeckung war die, dass man als jemand, der an Krebs erkrankt ist, eine gewisse Verantwortung dafür trägt, wie man von seinen Mitmenschen behandelt wird. Das war etwas, das mir während meiner Forschungen nicht bewußt geworden war. So mußte ich meinen Mitmenschen klarmachen, dass mir in Momenten, in denen ich an meinem Zustand litt, keine Lösungsvorschläge und auch keine Aufmunterungen halfen, sondern, dass es mir half, wenn jemand einfach sein Mitleid ausdrückte. Es tat mir gut, wenn jemand einfach nur da war. Wenn ich wegen meiner Krankheit über ein ungerechtes Schicksal haderte, oder für meine Zukunft schwarzsah, brauchte ich keine Ermahnungen, optimistisch zu sein. Ich wollte, dass man meine Ängste respektiert und das man mir während medizinischer Untersuchungen Beistand leisten würde, dass man Knochenmark spenden und sich im Falle meines Todes um meine Kinder kümmern würde.
Zu anderen Zeiten wollte ich Vorschläge oder zumindest Anregungen bekommen zum Umgang mit meiner Krankheit und ich habe auch gelernt, danach zu fragen. Ich wollte, dass man mir sagt, dass die Krebsforschung trotz ihrer Begrenztheit in Riesenschritten voranschreitet, das die Genforschung aufzeigt, was sich in den Krebszellen abspielt oder auch nur, dass irgend jemand noch 20 Jahre nach der Krebsdiagnose am Leben ist.
Ich wollte, dass meine Freunde, meine Schüler und besonders meine Kinder sahen, dass meine Krankheit mich nicht gegenüber ihren Problemen abgestumpft hatte. Wenn sie diesen Eindruck haben sollten, sollten sie wissen, dass sie jedes Recht hatten, Verständnis von mir einzufordern. Mir wurde bewußt, dass soziales Handeln ein Prozeß ist und nicht nur eine grundsätzliche Fähigkeit und dass es etwas ist, das man bewußt kontrollieren kann und auch sollte.
Während der ersten Monate nach der Diagnose vermied ich Gedanken an meine Zukunft, da sie mich ängstigten. Schließlich mußte ich mich aber doch damit auseinandersetzen. Ich entdeckte, dass mir unrealistischer Optimismus nicht weiterhalf. Mit Unsicherheiten konnte ich nicht umgehen. Ich hatte immer schon ein geplantes Leben geführt. Pläne bestanden für den nächsten Monat, das nächste Jahr und das nächste Jahrzehnt. Schließlich fand ich eine sehr individuelle Lösung - eine, mit der vermutlich kaum ein Fachmann konform geht. Deswegen schreibe ich nichts weiter darüber. Nachdem ich mich stark genug dazu fühlte, versuchte ich nüchtern in Abhängigkeit von meinem Lebensalter und meinem Krankheitsstadium meine Lebenserwartung einzuschätzen. Ich gab mir ein paar lebensverlängernde Extrapunkte, weil ich eine Frau bin, eine gute Kondition habe und von hervorragenden Spezialisten behandelt werde. So kam ich schließlich zu einer, wie ich hoffe, realistischen Einschätzung meiner Lage.
Der Vorteil davon, dass ich versuchte, meine Lage so realistisch wie möglich einzuschätzen, war der, dass ich so weder Gefahr lief, alles zu optimistisch zu sehen und während einer depressiven Phase zusammenzubrechen, noch, dass ich so pessimistisch war, von vorne herein sämtlichen Mut zu verlieren. Als ich mich schließlich in der Lage sah, mich wieder mit meiner Zukunft zu befassen, rückte auch meine Arbeit wieder in mein Blickfeld. Während der ersten Wochen nach meiner Diagnose mußte ich mich über die Möglichkeiten zu Knochenmarkstransplantationen in einem Österreichischen Krankenhaus informieren, einem Studenten bei der Planung eines Projektes helfen, bei dem es darum ging, wie man Patienten nach einer Routineuntersuchung mit der Krebsdiagnose konfrontiert und ein Seminar durchführen, dessen Thema war, wie Paare mit einer Krebsdiagnose umgehen. Als ich mir die Interviews mit Patienten anhörte, bei denen Krebs zufällig festgestellt worden war, war ich entsetzt darüber, wie viele von ihnen Familien hatten, die überhaupt nicht damit umgehen konnten, Arbeitskollegen, die sie fortan mieden und Ärzte, die nicht einmal in der Lage waren, mit ihnen Augenkontakt aufzunehmen.
Als ich begann, mich wieder für meine Arbeit zu engagieren, stellte sich mir die Frage, ob ich meine Kollegen über meine Krankheit informieren sollte. Würde ich mit der Zwiespältigkeit umgehen können, einerseits Patient zu sein und andererseits jemand, der sich professionell mit der Krebsthematik auseinandersetzt? Würde es einen schädlichen Einfluß auf meine Karriere bedeuten, mit Krebs stigmatisiert zu sein? Würden meine Kollegen in der Lage sein, einerseits Mitleid mit mir zu haben und mich andererseits als Kollegin respektieren können?
Ich hatte manchmal den Eindruck, dass es im Bereich der Krebsforschung einen krassen Gegensatz gibt zwischen denen, die an Krebs erkrankt sind und denen, die versuchen, Heilungsmöglichkeiten zu finden. Im Nachhinein vermute ich allerdings dass das eher ein Vorurteil von mir war. Hätte es einen Tabubruch bedeutet, wenn unter meinen Kollegen, die in der Krebsforschung tätig sind, einer selbst an Krebs erkrankt wäre?
Schließlich fand ich, dass es meiner Selbstachtung schaden würde, wenn ich aus meiner Krankheit ein Geheimnis machen würde. Wenn Krebs als Stigma gesehen wird - ich kann das nicht beweisen, obwohl vieles darauf hindeutet - würde es nur diese Stigmatisierung verstärken, wenn ich meinen Zustand geheim halten würde. Bis jetzt haben meine spontanen Enthüllungen unter Kollegen weder zu einem Verlust an Respekt, noch zu Diskriminierungen geführt. Als kürzlich bekannt wurde, dass der neu ernannte Vorsitzende des National Cancer Institute in Nordamerika selbst an zwei Formen von Krebs leidet, fühlte ich mich darin bestärkt, mit meiner Diagnose nicht hinter dem Berg zu halten.
Der Prozeß meiner Anpassung an die Krankheit war faszinierend. Er war ein einerseits tiefgehenderer und andererseits ein langsamerer Vorgang als ich erwartet hatte. Ein Jahr, nachdem mir meine Diagnose mitgeteilt worden war, habe ich Inventur gemacht. Meine Beziehungen zu Menschen, die mir nahe stehen, sind intensiver geworden. Meine Gesamtstimmung hatte sich zwar verbessert, aber ich hatte oft ein diffuses Gefühl von Unglück. Ich konnte mich immer noch schlecht konzentrieren, ich empfand meine Arbeit als sehr belastend, besonders, wenn von mir Kreativität gefordert war.
Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass das alles so sein müßte. Das Leben mit der Gewißheit, dass man Krebs hat, war nicht unerträglich, so wie ich früher dachte, aber es war auch kein Honiglecken. Unerwarteterweise ist jetzt, drei Jahre nach der Diagnose meine Lebensfreude zurückgekehrt, meine Arbeitsleistung ist wieder so, wie sie ursprünglich war und ich kann es fast verstehen, wenn manche Patienten behaupten, dass Krebs ihre Lebensqualität verbessert hat. Es wird in der Zukunft durch die Krankheit neue Herausforderungen für mich geben. Aber im Moment kann ich sagen, dass ich mich auf die Art und Weise mit der Krankheit abgefunden habe, wie sie in der einschlägigen Literatur beschrieben wird.
Unter den Menschen, die sich beruflich mit medizinischen Problemen befassen, herrscht momentan eine Zeit außerordentlichen Wandels. Das Konzept des mündigen Patienten setzt sich langsam durch und ersetzt das Bild des Patienten als Opfer. Das kommt teilweise durch das Internet, das dem Patienten viele Informationen zugänglich macht, die früher nur Ärzten und Forschern vorbehalten waren. Ärzte müssen lernen zu akzeptieren, dass es Patienten gibt, die über ihre Krankheiten besser informiert sind, als sie selbst, besonders, wenn sie an seltenen Krankheiten leiden. Obwohl ich mir sicher bin, dass das nicht immer leicht sein wird, hoffe ich, dass wir uns bereits in einer neuen Zeit befinden, in der Patienten und Ärzte zusammenarbeiten in dem Betreben, Krankheiten zu verstehen und zu behandeln. Vielleicht werden ja Menschen, die in beiden Lagern heimisch sind, ihren besonderen Beitrag dazu leisten.
CLL- neuer Optimismus
CLL ist eine bösartige Erkrankung einer bestimmten Art von weißen Blutkörperchen (Lymphozyten). Es existiert eine Population von abnormen Zellen, die ursprünglich von einer einzigen Krebszelle herstammen. Die abnormen Lymphozyten sind nicht in der Lage, ihre Aufgaben innerhalb des Immunsystems zu erfüllen und verdrängen schließlich die gesunden Zellen. Die Krankheit verläuft sehr unterschiedlich. In manchen Fällen schreitet sie nur langsam fort (indolenter Verlauf), in anderen Fällen aber verläuft sie aggressiv. In den meistens Fällen tritt sie bei Männern auf, die das fünfundsechzigste Lebensjahr überschritten haben. Obwohl nicht erwiesen ist, dass Chemotherapien lebensverlängernd wirken, werden sie angewandt, um Symptome zu lindern. Fortschritte auf dem Gebiet der Biologie (Gentechnik) haben in letzter Zeit zu einem gewissen Optimismus in Bezug auf neue Behandlungsmöglichkeiten geführt.
Jane Wardle ist Professorin für klinische Psychologie und Direktorin der Cancer Research UK´s Health Behaviour Unit.
Originaltitel: „Physician, heal thyself“ im Internet unter: www.observer.co.uk/review/story/0,6903,668604,00.html zu finden
Deutsche Übersetzung: Martin Bergmann
Vielen Dank für den Bericht
Jane Wardle
Vielen Dank für die Übersetzung des Berichtes an
Martin Bergmann
Martin Bergmann hat hier vier Erfahrungsberichte veröffentlicht: