Neuropsychologische Aspekte

Neuropsychologische Aspekte

Die Neuropsychologie ist ein Fachgebiet, das die Zusammenhänge zwischen dem Aufbau und der Funktion des menschlichen Gehirns und dem gesamten Spektrum unserer geistigen Fähigkeiten untersucht. Klinische Neuropsychologen sind Spezialisten, die sich mit den Auswirkungen von Erkrankungen und Verletzungen des Gehirns auf geistig-mentale Funktionen wie Sprache, Lernen, Gedächtnis, Handlungsplanung oder Aufmerksamkeit befassen. Neben der genauen Diagnostik durch spezifische Testverfahren hat die klinische Neuropsychologie effektive Ansätze zur Behandlung solcher Störungen entwickelt.

In der Onkologie beschäftigt man sich erst seit einiger Zeit mit möglichen Beeinträchtigungen geistiger Funktionen durch die Tumorerkrankungen selbst, oder durch die verschiedenen Formen von medizinischen Therapien wie z.B. Chemotherapien, Bestrahlungen, die das Gehirn mit erfassen, oder immunsuppressiven Behandlungen. Erste Studien in diesem Bereich wurden bei Patienten nach allogener Stammzell- oder Knochenmarktransplantation durchgeführt; dabei konnte nachgewiesen werden, dass ein Teil dieser Patienten Probleme bei der mentalen Leistungsfähigkeit hat. Wir wissen heute aber, dass andere onkologische Patienten (z.B Brustkrebspatientinnen nach Chemotherapie) ebenfalls solche Probleme haben können.

Viele Patienten erleben im Behandlungsverlauf gar keine oder nur gering ausgeprägte Probleme hinsichtlich ihrer geistig-mentalen Leistungsfähigkeit; für viele weitere bestehen solche Einschränkungen nur in einem engen zeitlichen Rahmen von wenigen Wochen nach der Transplantation.

Die meisten der vorliegenden Studien zeigten, dass ungefähr ein Jahr nach Abschluss der Behandlung keine Unterschiede zur geistigen Leistungsfähigkeit vor allogener Stammzelltransplantation beobachtbar waren. Ein wichtiges methodisches Problem dabei ist aber, dass in der Regel keine Daten zur Leistungsfähigkeit vor Beginn der Erkrankung vorliegen; zudem werden viele Patienten bereits vor Transplantation onkologisch behandelt. In den Studien wurde ein breites Spektrum von Fähigkeiten untersucht, und man fand, dass transplantierte Patienten in den meisten Bereichen keine Probleme hatten: so ist das logische Denken ebenso ungestört wie die Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen; auch das Langzeitgedächtnis und die allgemeine Intelligenz erwiesen sich als unbeeinträchtigt. Dagegen zeigten sich Defizite wiederholt im Aufmerksamkeitsbereich, bei bestimmten Gedächtnisfunktionen, sowie im Bereich psychomotorischer Leistungen. Konkret scheinen vor allem die Daueraufmerksamkeit, die geteilte Aufmerksamkeit, das Kurzzeitgedächtnis und die feinmotorische Koordination der Hände betroffen zu sein.

Daueraufmerksamkeit bezeichnet die Fähigkeit, über längere Zeiträume konzentriert an einer Aufgabe zu bleiben. Diese Fähigkeit brauchen wir beispielsweise beim Lesen eines Buches oder als Fahrer auf langen Autofahrten.

Unter geteilter Aufmerksamkeit verstehen Neuropsychologen die Fähigkeit, verschiedene Dinge gleichzeitig zu verarbeiten und adäquat zu reagieren. Ein alltägliches Beispiel wäre, gleichzeitig ein Essen zuzubereiten und einer Nachrichtensendung im Radio zu folgen.

Das Kurzzeitgedächtnis ist für die zeitlich eng umgrenzte Aufnahme von Informationen wichtig, die dann auf ihre Bedeutung geprüft und entweder wieder „gelöscht“ (das heißt: vergessen) oder in das sogenannte Langzeitgedächtnis übernommen werden. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn Sie eine Person nach einer Telefonnummer fragen, diese Ihnen die gewünschte Auskunft gibt, und Sie die Nummer so lange in ihrem Kurzzeitgedächtnis speichern, bis Sie die Verbindung gewählt haben und die Nummer nun nicht mehr benötigen.

Feine Koordination der Hände und Finger brauchen wir für viele Alltagsaktivitäten, vom Einfädeln des Nähgarns über das Zuknöpfen einer Jacke bis zur Bedienung des Handys. Probleme in diesem Bereich stehen in aller Regel mit der immunsuppressiven Medikation oder mit Sensibilitätsstörungen durch bestimmte Chemotherapeutika in Verbindung, die sich in den meisten Fällen nach unterschiedlich langer Zeit wieder zurückbilden.

Bis heute gibt es kein allgemeingültiges Modell, das die Entstehung geistig-mentaler Leistungsdefizite im Zusammenhang mit einer allogenen Stammzelltransplantation erklärt. Als Ursache wird auf der einen Seite ein direkter Einfluss der Therapien auf den Stoffwechsel und die Versorgung des Gehirns diskutiert, auf der anderen Seite gilt es zu bedenken, dass Tumorpatienten einer ganzen Reihe von körperlichen und seelischen Belastungen ausgesetzt sind, die allesamt zu den beschriebenen Leistungsdefiziten beitragen können. Hierbei sind als die wichtigsten zu nennen:

  • Krankheits- und therapiebedingter Stress
  • Ängste, Depressionen
  • Fatigue (krankheits- oder therapiebedingte Erschöpfungszustände)
  • Schlafstörungen
  • Hormonelle Veränderungen durch die onkologische Behandlung
  • Auswirkungen von Medikamenten zur Behandlungen von Nebenwirkungen

Bei Klagen über Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen nach einer Tumorerkrankung sind also viele Faktoren zu beachten, um die Probleme richtig einordnen und sinnvolle Rehabilitationstherapien planen zu können. So braucht nicht unbedingt jeder Patient sogleich neuropsychologisches Training; unter Umständen setzt die Therapie viel sinnvoller an einer anderen Stelle an. Wichtig ist aber in jedem Fall, dass entsprechende Klagen von den behandelnden Ärzten und Psychologen ernst genommen werden und gezielt nach möglichen Ursachen und konkreten Verbesserungsmöglichkeiten im Alltag gesucht wird.

In der Klinik für Tumorbiologie wird bereits seit langer Zeit Gruppentraining zur Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit durchgeführt, das bei den Patienten auf positive Resonanz treffen. Im Training geht es darum, über gezielte Übungen die Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistung zu verbessern. Ähnlich wie in der körperlichen Therapie ist hier ein regelmäßiges, dosiertes und auf die spezifischen Probleme ausgerichtetes Training am sinnvollsten.

In einer groß angelegten Studie wurde der Wert eines solchen spezifischen Trainings an fast 200 Patienten der Klinik für Tumorbiologie (onkologische Rehabilitation und Nachsorge) untersucht; etwa die Hälfte davon nach Transplantation. Man konnte feststellen, dass sich Leistungsdefizite bei den meisten Studienteilnehmern bereits während der Zeit des stationären Aufenthalts deutlich verbesserten, und zwar unabhängig davon, ob die Person ein spezifisches kognitives Training absolvierte oder nicht. Im weiteren Verlauf nach Ende der Rehabilitation verbesserten sich die geistig-mentalen Funktionen weiter, allerdings fanden wir bei einer kleinen Teilgruppe auch ein Jahr nach Transplantation noch Hinweise auf eine reduzierte Leistungsfähigkeit.

Es wäre wünschenswert, für diesen Personenkreis gezielte neuropsychologische Diagnostik und Therapie anbieten zu können. In der Praxis stellt sich die Situation aber schwierig dar, denn das Wissen über diese speziellen Therapiefolgeprobleme ist insgesamt noch nicht ausreichend verbreitet; zudem ist die Kostenübernahme für ambulante neuropsychologische Therapie auch bei anderen Krankheitsbildern (z.B. nach Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma) ausgesprochen schwierig. Es ist beabsichtigt, im Rahmen eines wissenschaftlichen Folgeprojekts ein spezifisches Behandlungskonzept für Patienten mit langfristigen Beeinträchtigungen der geistig-mentalen Leistungsfähigkeit zu entwickeln.

Vielen Dank für die Bearbeitung an
Dipl. Psych. Martin Poppelreuter
Klinik für Tumorbiologie - Freiburg

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